„Nicht zu viel Müll“: Professorenwort zum Sinn juristischen Schreibens

05.11.2020 10:26

Socratic-Sessions bieten Reflexionsräume ohne Denkverbote

von Günther Schaunig

Am 19. und 20. Oktober 2020 kamen zwölf Fellows der Doktoratsschule Ars Iuris Vienna (Katharina Figl, Julia Flir, Irla Fock, Richard Franz, Melissa Jabbour, Moriz Kopetzki, David Messner, Helena Palle, Karina Jasmin Karik, Felix Zopf, Sophie Schwertner, Günther Schaunig) zu einem Socratic in Wien zusammen. Die Fellows sind im Wesentlichen amtierende (teilweise ehemalige) Doktorierende und Habilitierende. Das Socratic ist ein innovatives Seminar, das alle Facetten wissenschaftlich-praxisbezogenen Schreibens lehren soll. Das in Österreich in dieser Form einzigartige Format besticht unter anderem durch die stetige Weiterentwicklung der Feedbackkultur. Auch im Rahmen dieses Seminars kamen Anleitung und Moderation von Univ.-Prof. MMag. Dr. Michaela Windisch-Graetz und Univ.-Prof. Mag. Dr. Franz-Stefan Meissel.

Folgende Textentwürfe standen auf dem Prüfstand: „Neue Entwicklungen im ‚Diesel-Skandal‘ aus Perspektive des österreichischen Schadenersatzrechts“ (Richard Franz), „InterzedentInnenschutz im römischen und im geltenden Recht“ (Karina Jasmin Karik, Auszug aus der Dissertation), „Is it possible for a data subject to ‚opt-out‘ of the General Data Protection Regulation?“ (Felix Zopf, Auszug aus der Dissertation), „Der Begriff des ‚Strafverfahrens‘ in Art 90 Abs 2 B-VG“ (Julia Flir, Auszug aus der Dissertation), „Harmonisierung Arbeiter – Angestellte im Arbeitsrecht de lege lata“ (Katharina Figl) und „‚Willkommen und Abschied‘: Steuergeschenk Zuzugsfreibetrag“ (Günther Schaunig).

Diskussionsgegenstand war zunächst die methodenbezogene Frage nach dem Wert sogenannter Rechtssätze. Rechtssätze sind Bruchstücke aus Entscheidungen von Höchstgerichten. Darin fassen eigens eingerichtete Evidenzbüros, denen die Erfassung der Entscheidungen der Gerichte obliegt, die wichtigsten Aussagen der Höchstgerichte zusammen. Tenor der Diskussion: Rechtssätze erreichen oft nicht die Qualität der Originalentscheidungen und verwässern die rechtlichen Aussagen, worunter wiederum die wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit leidet. Rechtssätze sind daher im schlimmsten Fall in etwa so verlässlich wie Erlässe (keine verbindlichen Normen) oder Politikeraussagen auf Pressekonferenzen (keine verbindlichen Normen). Fazit: Gehäufte Rechtssätze in juristischen Publikationen haben sich als eine Art Unkultur etabliert, der insbesondere die Wissenschaft – also insbesondere das Universitätspersonal vom Rookie bis zum Emeritus – entgegenwirken sollte.

Erneut kam es zu Empfehlungen der Professorenschaft, englische Publikationen nur dann zu schreiben, wenn man diese Sprache gut genug beherrscht. Denn das akademische Schreiben in deutscher Sprache sei schon schwer genug: „Internationalität“ sei daher „nicht um jeden Preis“ anzustreben. Kritisiert wurde auch die Publikationsflut der gesamten juristischen Welt. Eine weitere Empfehlung lautete daher: „Nicht zu viel Müll“. Unsere Aufgabe als Universität sei es, Qualität abzuliefern. Quantität könne jeder; Qualität nicht.    

Einzigartig ist das Socratic auch wegen der gelebten akademischen Freiheit. Denkverbote gibt es nicht. Auch hochkontroverse Texte werden erörtert (und dann manchmal entschärft, weil man sich zwar alles denken darf, aber nicht alles aufschreiben sollte). Über 150 Jahre hat es ja schon auf dem Buckel, das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit in Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus dem Jahr 1867 (Verfassungsrang). Und dort heißt es auch im Jahr 2020 (noch): „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.“