Am 7. November 2022 entschied das AG Flensburg über einen Fall von Hausfriedensbruch durch einen Aktivisten, der die Rodung eines Baumes durch seine Besetzung verhindert hatte. Das Urteil: Wegen rechtfertigenden Notstands sei der Aktivist nicht strafbar. Die Rechtfertigung wiederum konnte v.a. mit Verweis auf den (drohenden) Klimawandel begründet werden. Diese Entscheidung wurde eine der meistbesprochenen AG-Entscheidungen der jüngeren Zeit. Interessant ist sie in vielerlei Hinsicht: Im starken Rückgriff auf das Verfassungsrecht und die BVerfG-Judikatur, in der dadurch bedingten weiten Anwendung der strafrechtlichen Kategorien, sowie in der Verortung des Falles in Fragen des zivilen Ungehorsams. Das AG beachtete andere übliche Lösungsansätze für Klimaaktivismus-Fälle kaum und trat in vielen Stellen nicht in den gängigen Diskurs ein. Der Argumentation des AGs liegt eine gewisse Radikalität in der Betonung des Klimaschutzes als Rechtsgut zugrunde und verdient eine besondere (juristische wie rechtstheoretische) Analyse.
In der Prüfung des § 34 dStGB hielt sich das AG zwar an die strafrechtlich normierten Prüfungselemente, brachte sie jedoch inhaltlich in einen weitestgehend neuen Kontext. Dem aus dem Klimabeschluss und Art. 20a GG abgeleiteten Rechtsgut „Klimaschutz“ wird an mehreren Stellen der Prüfung besonders großer Wert zugemessen, was eine feinere und einzelfallbezogenere Abwägung verhindert. Besonders eindrucksvoll ist hier, dass die Argumentation des Gerichts sich zur Begründung einer dauerhaften Klima-Notstandslage eignet. Die strafrechtliche Prüfung einer Notstandslage würde sich bei einer derartigen Verfassungsauslegung erübrigen. Ein weiteres wichtiges Element der Entscheidung ist die Entwicklung eines neuartigen Standards für die Geeignetheit der Notstandshandlung, im Urteil als „unmittelbarer Wirkungszusammenhang“ bezeichnet, der aufgegriffen und auf eine genauere Anwendungsmöglichkeit überprüft werden muss.
Aus dem Blickwinkel der Rechtstheorie stellen sich mehrere Fragen. Die eine ist die nach der starken, das einfachgesetzliche Recht schließlich fast auflösenden Anwendung der verfassungskonformen Interpretation. Die Begründung des AGs scheint den integrativen Charakter der verfassungskonformen Interpretation zu verkennen und schließlich nur mit noch mit Verfassungsrecht zu argumentieren. Anstatt den Bestand des einfachgesetzlichen Rechts so weit als möglich zu erhalten, wird er mit Verweis auf den wichtigen verfassungsmäßigen Gehalt des Klimaschutzes inhaltlich ausgehöhlt, wobei auch andere Verfassungsgüter in der Abwägung nicht hinreichend beachtet werden. Könnte ggf. durch eine Trennung in die konkrete Handlung (etwa die Rettung eines Baums) einerseits und das Fernziel des Klimaschutzes andererseits eine adäquatere Lösung gefunden werden? Ein Versuch einer solchen – methodisch stringenteren – verfassungskonformen Interpretation des (Klima-)Notstands würde jedenfalls von einer kohärenten theoretischen Auseinandersetzung mit Rechtsgütern und Rechtswerten profitieren. Zudem ist es aus rechtsphilosophischer Sicht interessant, dass das Flensburger Gericht explizit davon sprach, sich nicht mit zivilem Ungehorsam zu beschäftigen und somit die Tendenzen im europäischen Vergleich zur Lösung solcher Klimaaktivismus-Fälle über eine Entschuldigung oder Strafminderung aufgrund der geringen Schuld bzw. des geringen Strafbedürfnisses außer Acht ließ. Schließlich stellt sich auch die Frage nach einer potentiellen Notwendigkeit, die Rahmen des einfachgesetzlichen Rechts, wie hier des Strafrechts, zu verlassen, wenn die einfachgesetzlichen Kategorien für eine profunde Anwendung auf den Klimanotstand nicht vorbereitet sind. Könnte hier durch eine Art übergesetzlichen Wert des Klimaschutzes – anlehnend an Radbruch – das Verlassen des einfachen Rechts erforderlich sein? Das Vorgehen des AG Flensburg jedenfalls verließ in einigen Hinsichten das, was einfachgesetzlich als Ergebnis vermutet wurde, und musste sich so nicht überraschenderweise den Vorwurf des unjuristischen Arbeitens und sogar des richterlichen Aktivismus gefallen lassen.
Welche Konsequenzen und Erkenntnisse lassen sich aus der Analyse des AG-Urteils für eine allgemeine Bewertung des Klimawandels im nationalen Recht finden? Jedenfalls zeigen sich insgesamt einige Schwachstellen, die von der schrittweisen Anpassung einer nationalen Rechtsordnung an die globale Klimakrise bedingt sind.
Dies ist eine Zusammenfassung der Präsentation vom 23.9.2023. Der dazugehörige Artikel erscheint auf Englisch.
Kurzbiographien
Ellen Hagedorn ist Universitätsassistentin (prae doc) am Institut für Rechtsphilosophie der Uni Wien. Zuvor studierte sie Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Schwerpunkt „Zeitgeschichte und zeitgenössische Theorie des Rechts“. Sie arbeitet u.a. in der Grundlagenforschung zur Rechtssubjektivität im Hinblick auf selbstständige technologische Systeme.
Lorenz Handstanger ist Universitätsassistent (prae doc) am Institut für Rechtsphilosophie der Uni Wien. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien mit Schwerpunkten in Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie und forscht im Bereich der politischen Theorie u.a. zur Rolle von Grundrechten und Grundwerten im Verfassungsstaat.