Ein rechtshistorischer Blick auf die Ausformung richterlicher Methoden

23.01.2023

 

Dieser Beitrag stellt die Methoden der richterlichen Praxis zur Diskussion und wirft dazu einen Blick auf anschauliche Beispiele aus dem 19. Jahrhundert. Es werden zunächst verschiedene Fallgruppen der staatlichen Intervention bei der Ausbildung richterlicher Methoden gebildet und im Anschluss erläutert, wieso es in der Praxis unter Umständen angepasster methodischer Lösungen bedarf. Die Idee für diesen Beitrag ist im Zuge der Diskussion im Anschluss an den Vortrag von Univ.-Prof.in Dr.in Lena Foljanty zum Thema „Praxis der Methoden im Rechtskulturvergleich“ entstanden und viele ihrer Ideen sind auch in diesen Text eingeflossen.

Schon in der Antike nahmen Gelehrte wie Platon eine gewisse Trennung von Theorie und Praxis vor.[1] Zwar ist die Rechtswissenschaft eine denkbar „praxisnahe“ Wissenschaft, die sich (anders als in den Naturwissenschaften[2]) va mit der Regelung menschlichen Verhaltens auseinandersetzt.[3] Dennoch besteht ein gewisses Spannungsverhältnis bei der Anwendung der klassischen (akademischen) Auslegungsmethoden[4] in der rechtlichen Praxis, so ua in der richterlichen Arbeit, die sich eben nicht rein auf wissenschaftliche Denk- und Auslegungsprozesse beschränkt. Vielmehr werden in der richterliche Praxis (rechts-)wissenschaftliches und alltägliches Wissen (so zB Sachverhaltsbildung, Interaktion mit Parteien und Zeug*innen, Wertung von technischen/medizinischen Gutachten) miteinander vereint und es fließen auch teilweise nicht-rechtliche Wertungen in das Urteil ein.[5] Es stellt sich die Frage, inwiefern eine Intervention von staatlicher Seite hinsichtlich der bei Gericht angewandten Methoden überhaupt angezeigt sein kann bzw welche Eingriffe in der Praxis zielführend sein können. Ein besonders anschauliches historisches Beispiel für staatliche Eingriffe in die Gerichtspraxis bietet die Justiz-Reform in Japan im 19. Jahrhundert, die zu einer vermehrten Verwestlichung des Rechts sowie teilweise auch des Gerichtsapparates nach französischem, später auch englischem und deutschem Vorbild führte.[6] Das japanische Justizministerium setzte dazu in den 70er- und 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts ua folgende Maßnahmen: Einerseits wurden Gerichte angehalten, Anfragen an das Justizministerium zu stellen, sofern die Richterschaft bei der Bearbeitung von Fällen auf auslegungsbedürftige Gesetze stieß. Andererseits wurden besondere Bewerbungs- und Qualifikationsverfahren für die Besetzung von Richterstellen eingesetzt, die va auch die westlichen Handelspartner Japans von der Qualifizierung des japanischen Gerichtsapparates überzeugen sollten. Bis auf weitere geringfügige Eingriffe gab das Justizministerium allerdings kaum inhaltliche Anhaltspunkte oder Methoden zur Rechtsauslegung für die richterliche Arbeit vor.[7] Auch in Österreich werden der richterlichen Praxis wohl streng genommen keine eigenen, von den klassischen akademischen Methoden losgelösten, Werkzeuge in die Hand gegeben.

Bevor die Frage, ob die Vorgabe richterlicher Methoden von Seiten des Staates wünschenswert ist, beantwortet wird, soll zunächst noch erörtert werden, wie ein Eingriff in diesem Bereich überhaupt aussehen kann. Einerseits können Methoden bereits vom Gesetz selbst vorgegeben werden, wie beispielsweise in den §§ 6 ff ABGB.[8] Andererseits können wohl auch indirekte Einwirkungen wie die Ausgestaltung der juristischen Grundausbildung an den Universitäten auf die Arbeit angehender Praktiker*innen einwirken.[9] Ein weiterer, va auf die richterliche Praxis zugeschnittener Weg, wäre die Vorgabe bestimmter richterlicher Methoden als Prüfungsstoff bei Aufnahmeverfahren zur Besetzung von Richter*innenstellen, ähnlich wie dies in Japan praktiziert wurde, um auf die methodische Ausgestaltung der Rechtsprechungspraxis einzuwirken.[10] Denkbar wäre wohl auch eine Bindung über bestimmte Methoden, ua auf dem dienstrechtlichen Weg, beispielsweise durch eine Verpflichtung zur Anrufung bestimmter Stellen bei Auslegungsfragen, wie dies auch in Japan im 19. Jahrhundert praktiziert[11] und auch heute noch bei Fragen zur Auslegung europäischen Rechts an den Europäischen Gerichtshof vorgesehen ist (vgl dazu etwa Art 267 AEUV). Dem Staat stünden also mehrere Möglichkeiten offen, auf die Ausbildung eigener richterlicher Methoden einzuwirken. Doch ist eine solche Entwicklung überhaupt wünschenswert, oder gar erforderlich, oder sollen sich Methoden der Praxis besser im Zuge eines natürlichen Prozesses, mehr oder weniger „von selbst“, entwickeln? Aktuell bilden wohl noch die „klassischen“ akademischen Methoden die Grundpfeiler der richterlichen Arbeit in methodischer Hinsicht. Oft legen Gerichte in veröffentlichten (Urteils-)Texten nicht (oder ggf nur implizit) offen, auf welche Methoden sie sich im konkreten Fall stützen. Anhaltspunkte könnte aber bereits ein Blick auf die juristische Ausbildung bieten[12], die sich idR auf die klassischen rechtswissenschaftlichen Methoden konzentriert. Um die aktuell in der richterlichen Praxis einschlägigen Methoden zu studieren, würde es dennoch einiger Forschung bedürfen, so zB durch das Studieren von Urteilen und den darin enthaltenen Hinweisen auf die verwendeten Methoden, sowie über die Verfolgung von Gerichtsverhandlungen. Methodische Transparenz ist auch für die Nachvollziehbarkeit, Vorhersehbarkeit und ggf auch Kritik von Entscheidungen der Gerichte wesentlich, weil nur mithilfe der verwendeten Methoden ermittelt werden kann, wieso das Gericht Fragen in gewisser Weise beantwortet hat. Es steht wohl nicht außer Frage, dass die akademischen Methoden nicht gänzlich auf die hochgradig einzelfallspezifische und komplexe richterliche Praxis übertragbar sind. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass die akademischen Methoden sehr stark gesetzeszentriert sind, und teilweise der Fokus auf den Einzelfall fehlt. Außerdem lassen die klassischen Methoden kaum Platz für Aspekte außerhalb der Rechtslage: Beispielsweise können abhängig von der Arbeitsweise des Gerichts als Einzelrichter*in oder Spruchkörper verschiedene Methoden erforderlich sein oder der/die Richter*in muss teilweise sogar gewisse Verhaltensweisen prognostizieren (zB bei der Strafzumessung).[13] Hassemer hält dazu fest, dass „die juristische Methodenlehre, wie wir sie pflegen und tradieren, für eine Frucht der Studierstube, die sich auf strenges Ausdenken, aber nicht auf Beobachtung praktischen juristischen Handelns berufen kann“, geeignet ist.[14] Es besteht daher gewisser Anpassungsbedarf der klassischen Methoden, weil die richterliche Arbeit sich nicht nur durch ihre rechtswissenschaftliche Orientierung, sondern insbesondere durch ihre starke Bindung an die Lebenspraxis (zB Wissen über Konfliktlösung, technisches Wissen, Menschenkenntnis, etc) auszeichnet.[15]

Man könnte daher durchaus einen Bedarf nach eigenen Methoden der Praxis orten, wenngleich sich gewisse richterliche Methoden wohl bereits „von selbst“ entwickelt haben. Die Ausbildung richterlicher Methoden sollte nicht ausschließlich den Gerichten überlassen bleiben, weil zumindest teilweise vereinheitlichte und nachvollziehbare Methoden zum Verständnis des Entscheidungsprozesses unumgänglich und auch verfassungsrechtlich angezeigt sind. Aufgrund der besonderen Einzelfallorientierung der richterlichen Arbeit wird eine Vorgabe strenger methodischer Regeln von staatlicher Seite wohl nicht durchwegs möglich oder wünschenswert sein, denn eine flexible Anpassung an das einzelne Verfahren muss immer noch möglich bleiben. Vielmehr kommt es idZ wohl auf ein Zusammenspiel der vorgegebenen Maßnahmen und einer natürlichen, freien Entwicklung von Methoden durch die Gerichte an. So könnte man beispielsweise bereits im rechtswissenschaftlichen Studium eine (noch) weiter gehende Auseinandersetzung mit den Methoden der Praxis (auch im rechtsgeschichtlichen Kontext) fördern, beziehungsweise Überlegungen zur richterlichen Methode auch intensiver in die Ausbildung und in das Bewerbungsverfahren junger Richter*innen einbinden. Insbesondere wäre aber auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Methoden der Praxis und möglichen Abweichungen von der klassischen Methodenlehre sinnvoll, um über weitere Maßnahmen nachdenken zu können.


[1] Platon, Der Staatsmann 258.

[2] Aristoteles, Metaphysik 1025b.

[3] Zippelius, Juristische Methodenlehre10 (2006) 2.

[4] Dazu im Überblick Bydlinski F./Bydlinski P., Grundzüge der juristischen Methodenlehre3 (2018) 27 ff.

[5] Morlok/Kölbel, Rechtspraxis und Habitus, Rechtstheorie 2001, 289 (289 ff).

[6] Foljanty, Zur Problematik der Übersetzung richterlicher Methoden: Frankreich und Japan im 19. Jahrhundert, ZRG 2016, 499 (499 f).

[7] Foljanty, ZRG 2016, 499 (512 f).

[8] Bydlinski F./Bydlinski P., Grundzüge der juristischen Methodenlehre 24 f; vgl dazu im Detail auch Kerschner/Kehrer in Fenyves/Kerschner/Vonklich, Klang3 (2014) §§ 6, 7 ABGB Rz 1 ff.

[9] In Frankreich wurde indessen im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Mangel an Praxisorientierung im juristischen Studium kritisiert, so zB Laboulaye, Quelques réflexions sur l’enseignement du droit en France (1845) 16; in Japan gab es wohl gar keine eingehende Auseinandersetzung mit methodischen Überlegungen im rechtswissenschaftlichen Studium, vgl Foljanty, ZRG 2016, 499 (Fn 76).

[10] Vgl Foljanty, ZRG 2016, 499 (513).

[11] Foljanty, ZRG 2016, 499 (512 f).

[12] Vgl idZ auch Foljanty, ZRG 2016, 499 (102 mwN).

[13] Vgl mit weiteren Beispielen Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, Rechtstheorie 2008, 1 (20 f).

[14] Hassemer, Rechtstheorie 2008, 1 (14).

[15] Morlok/Kölbel, Rechtstheorie 2001, 289 (290 f).