von Günther Schaunig
Das Socratic-Seminar am 14. Dezember 2020 versammelte siebzehn Fellows der Doktoratsschule Ars Iuris Vienna (Elke Haslinger, Julia Heindl, Elisabeth Bartmann, Matthäus Uitz, Lilo Martini, Caterina Maria Grasl, Martin Traußnigg, Anton Dirlinger, Stephanie Nitsch, Florian Ettmayer, Maria Sagmeister, Alexander Rimböck, Philipp Ondrejka, Paola Lopez, Helena Palle, Karina Jasmin Karik und Günther Schaunig). Das Seminar fand im Rahmen einer Videokonferenz statt. Anleitung und Moderation übernahmen in bewährter Weise Univ.-Prof. MMag. Dr. Michaela Windisch-Graetz und Univ.-Prof. Mag. Dr. Franz-Stefan Meissel.
Folgende Textentwürfe waren Diskussionsgegenstand: „Der Untersuchungsgrundsatz im Verwaltungsverfahren und in der Verwaltungsgerichtsbarkeit“ (Martin Traußnigg, Exposé zum Dissertationsvorhaben), „Parental Protection Rights of the Economically Dependent Self-Employed in Austria and Slovenia“ (Sara Bagari und Maria Sagmeister), „VwGH zur Parallelität des Inlandsbezuges bei Glücksspielabgaben und Wettgebühren“ (Alexander Rimböck), „A Brief History of ICA-Jurisdiction“ (Florian Ettmayer, Auszug aus der Dissertation), und „Reformorientierte Überlegungen zu Pendlerfahrtkosten im Rahmen der Einkommensteuer“ (Günther Schaunig mit rechtspolitischen Reformaspekten von Hannah Pichler).
Stichwort Textentwürfe: Der ureigentliche Sinn von Socratic-Seminaren ist, junge Menschen zum gegenseitigen Austausch von Ideen und zur Verschriftlichung von Gedanken zu motivieren. Die Ideen dürfen dabei auch „unausgegorene“ Fragmente abseits des Mainstreams sein. Da die Ars Iuris Vienna die Fellows auch zu wissenschaftlichen Laufbahnen ermuntern soll, ist dieses Seminarkonzept goldrichtig. Um einen Text in die „Arena“ eines Socratic-Seminars zu werfen, braucht man daher keinen Mut – sondern nur eine Idee.
Heiter angeregt vom in die virtuelle Runde geworfenen Schlagwort „Genossen“, diskutierten Professorenschaft und Fellows unter anderem die essenzielle Trennung zwischen Rechtsanalyse und Politmeinung. Diese Trennung ist aber gar nicht so einfach: Die Rechtswissenschaft ist eine Geisteswissenschaft und – um nicht zu sagen „naturgemäß“ (oder eben „nicht naturgemäß“) – eingebettet in politische, kulturelle und soziologische Dimensionen. Auch ein strenger rechtspositivistischer Ansatz, der für die Auslegung von Gesetzen zentral auf den Wortlaut abstellt, kommt nicht ohne Wertungen aus. Denn sogar wer die Wertungen ausschließlich dem Gesetz entnehmen will, vollzieht diesen Prozess zumindest teilweise auch nach dem persönlichen Empfinden.
Stichwort Empfinden: „Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens“ (Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention). Aber was ist das, Familienleben? Und jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache von einem „unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht“ gehört wird (Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention). Aber was ist das, Unabhängigkeit? Und was ist überhaupt ein Gericht?
Ein Gericht ist jedenfalls der Verfassungsgerichtshof. Das Höchstgericht urteilte im Jahr 2017, dass auch gleichgeschlechtliche Paare künftig heiraten dürfen. In früheren Jahren hätten die Richterinnen und Richter vielleicht anders entschieden. Vielleicht würde es auch einen Unterschied machen, ob der urteilende Mensch selbst in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt. Im Jahr 1974 entschied der Gerichtshof über die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs, im Jahr 2020 über die Strafbarkeit der Hilfeleistung zum Selbstmord. Beides erlaubte der VfGH. Wer könnte behaupten, diese komplexen Fragestellungen hätten nichts mit Politik zu tun? Und mehr noch: Angesichts dieser Beispiele entscheiden Gerichte letztlich im weitesten Sinn auch über – Leben und Liebe.