von Thomas Voit
Im Zentrum stand dabei die Frage, welche Rolle Grundrechten (die paradoxerweise einerseits die Pluralisierung der Gesellschaft, andererseits die Schaffung sozialer Kohäsion zum Ziel haben) im Konflikt zwischen Gesellschaft und Individuum zukommt bzw zukommen soll. Dies vor allem vor dem Hintergrund einer politisch oft postulierten Leitkultur, die sich zwar in gesetzlichen Wertentscheidungen niederschlägt, jedoch vom EGMR als EMRK-widrig angesehen wird. Zum Zweck der Beantwortung dieser Frage wurden vier kleine Gruppen gebildet, die jeweils spezifische Arbeitsaufträge zu bearbeiten hatten und sich dafür im Seehaus in verschiedene Ecken und Räume zurückzogen.
In der ersten Arbeitsgruppe mit dem Titel „Die Abwägung von Pluralismus und sozialer Kohäsion in der Rechtsprechung des EGMR“ sollte anhand mehrerer EGMR-Entscheidungen nicht nur herausgearbeitet werden, welches Grundrechtsverständnis der EGMR vertritt, sondern auch die Frage behandelt, ob Richter:innen in Entscheidungssituationen von ihren persönlichen Denkvoraussetzungen (zB Erfahrungen, Wert- und Moralvorstellungen) völlig frei oder immer davon beeinflusst sind.
Um den Gehalt von Grundrechten drehte sich der Schwerpunkt der zweiten Arbeitsgruppe („Der Gehalt von Grundrechten – institutionelles Grundrechtsverständnis“). Anhand eines Textes über das Grundrechtsverständnis zweier (Rechts)Soziologen (Luhmann und Parsons) sollte geklärt werden, dass Grundrechte – bis zu einem gewissen Grad – von der Gesellschaft geprägt sind, in der sie entstehen (institutionelles Grundrechtsverständnis).
Die dritte Arbeitsgruppe fand unter dem Titel „Rechtspluralismus“ statt. Anhand von zwei EGMR-Entscheidungen sollte das mögliche Spannungsverhältnis zwischen rechtspluralen Systemen (als Instrument der Anerkennung von Minderheiten mit eigenen Regeln) und Menschenrechten beleuchtet werden. Wie kann mit diesem Spannungsverhältnis umgegangen werden, ohne den Vorteilen rechtspluraler Systeme verlustig zu gehen?
Eine der zweiten Arbeitsgruppe ähnliche Stoßrichtung verfolgte die Arbeitsgruppe vier („Menschenrechte als westlich-europäische Konzepte“). Sind Menschenrechte wirklich universal oder handelt es sich dabei um westlich-europäische Konzepte? Kann es ein Menschenrechtsverständnis geben, das sich der ideengeschichtlichen Wurzeln entledigt und somit zum Überwinden des (Post)Kolonialismus führt?
Nach fruchtbringendem Austausch zu den einzelnen Themen in Kleingruppen versammelten sich alle Workshopteilnehmer:innen im Seehaussal, um ihre aus der Ausarbeitung der Arbeitsaufträge gewonnen Erkenntnisse in eine rege und spannende Diskussion einzubringen, die schnell offenbarte, welche Aktualität und Reichweite die aufgeworfenen Fragen aufweisen. Nicht zuletzt geht es in einer krisengerüttelten und globalisierten Gesellschaft wie der unsrigen dabei um die zentrale Rolle von Jurist:innen und Richter:innen, die sich tagtäglich damit konfrontiert sehen, im Spannungsverhältnis zwischen Pluralismus und sozialer Kohäsion abzuwägen und bemüht sind, juristisch wertneutral zu entscheiden. Doch kann es eine solche Wertneutralität überhaupt geben?
Mit dem Abschluss der Diskussion ging auch ein wahrlich interessanter und gelungener Workshop voller spannender Denkanstöße und Informationen zu Ende und man begab sich vom Seehaussaal wieder nach draußen, um sich, immer noch grübelnd und reflektierend ob der angesprochenen Fragen, die Strahlen der für das Salzkammergut erstaunlich heißen Sommersonne ins Gesicht fallen zu lassen.