Socratic-Seminar in Wien
von Günther Schaunig
Die 2016 ins Leben gerufene Vienna Doctoral Academy (Communicating the Law – Innovative Approaches to Law and Society) war ein Vorzeigeprojekt der Universität Wien. Die 2020 gestartete neue – erweiterte – Doktoratsschule Ars Iuris Vienna (Advanced Research School in Law and Jurisprudence) knüpft an diese Erfolgsgeschichte nahtlos an: Auch das von 4. bis 5. August 2020 in Wien abgehaltene Socratic-Seminar zog wieder viele begeisterte Fellows an (Felix Zopf, Michael Binder, Matthias Edtmayer, Florian Ettmayer, Pepita Fallmann, Katharina Figl, Richard Franz, Roman Friedrich, Moriz Kopetzki, Cornelia Lanser, Laura Sophie Moser, Julian Pehm, Stefan Potschka, Julius Schumann, Maria Sagmeister, Sophie Schwertner, Tensin Amrei Studer, Ulrich Wagrandl, Anton Dirlinger, Thomas Dullinger, Elke Haslinger, Melissa Jabbour, Leonie Liebenwein, Clemens Nigsch, Anna Novitskaya, Helena Palle, Monika Stempkowski, David Tritremmel, Kilian Wagner, Matthäus Uitz, Günther Schaunig). Die Seminarleitung übernahmen Univ.-Prof. MMag. Dr. Michaela Windisch-Graetz, Univ.-Prof. Mag. Dr. Franz-Stefan Meissel, Univ.-Prof. Dr. Ebrahim Afsah und Univ.-Prof. Mag. Dr. Nikolaus Forgó.
Elf Texte wurden erörtert: „Sanktionen für den ungeständigen Schuldner“ (Michael Binder, Auszug aus der Dissertation), „Reflexwirkungen von Richtlinien infolge vertikaler Direktwirkung“ (Moriz Kopetzki, Auszug aus der Dissertation), „The concept of concessions under EU law“ (Cornelia Lanser, englische Dissertationszusammenfassung), „Der persönliche Anwendungsbereich des ius offerendi“ (Laura Sophie Moser, Auszug aus der Dissertation), „Die Entscheidungsfähigkeit als grundlegende Voraussetzung der Geschäftsfähigkeit (§ 865 ABGB)“ (Clemens Nigsch, Auszug aus der Dissertation), „Die Rechtsfiguren des agere und der actio im Römischen Recht“ (Anna Novitskaya, Auszug aus der Dissertation), „Liability for damages culpably caused by other persons in the field of locatio conductio“ (David Tritremmel, englische Dissertationszusammenfassung), „Der geschäfts(un)fähige Gesellschafter: Rechtsprobleme der Stimmrechtsausübung in der Personengesellschaft zwischen dem betroffenen Erwachsenen und seinem gesetzlichen Vertreter“ (Matthäus Uitz, Auszug aus der Dissertation), „Application scope of the General Data Protection Regulation“ (Felix Zopf, Auszug aus der Dissertation), „Instanz und Instanzenzug“ (Ulrich Wagrandl), „Arbeitslohn oder Schenkung?“ (Günther Schaunig).
Wenn der Wind im Seminarraum die Türen zuknallt, schrecken alle auf. Doch niemand hat geschlafen, denn: Das Konzept der Socratic-Seminare ist so simpel wie genial und alle bleiben hellwach. Texte im – mehr oder weniger weit fortgeschrittenen – Entwurfsstadium werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln gelesen: Die Texte werden „geöffnet“ und verschiedene Institute bereichern einander (zB Rechtsphilosophie und Digitalisierung im Recht), um „nicht immer im eigenen Saft zu kochen“. Es ist auch Raum für interdisziplinäre Auseinandersetzungen (zB mit Klinischer Psychologie bzw Psychiatrie). Die besondere Bereicherung der Anregungen von Professorinnen und Professoren äußert sich etwa im Aufzeigen katachrestisch anmutender (und daher untauglicher) „zynischer Ironie“, „nicht erkennbarer archimedischer Punkte“ und „blinder Flecken in methodischen Positionen“. Ein österreichischer Gegenwartsautor griff das Motiv des blinden Flecks in einem Roman im Jahr 1995 auf. Leugner des blinden Flecks entlarven sich in einer möglichen Lesart als Opfer ideologischer Entstellung und metaphorischer Blindheit. Wenn die Fellows bisweilen die strengen Seitenzahl- und Redezeitvorgaben aufgrund ihrer Begeisterung nicht einhalten können (dh: zu lange Texte, zu langes mündliches Feedback), sind die Professorinnen und Professoren großzügig-liberal und lehren die Fellows eine akademische Grundhaltung: Öffnung der Herzen und Öffnung des eigenen – bescheidenen – Geistes.
Akademisches Schreiben kann übrigens auch ziemlich anstrengend sein: Rechtliche Analysen führen bisweilen zum Ergebnis, dass es kein gutes Ergebnis gibt oder das Ergebnis unklar ist. Das wiederum kann zur Resignation führen. Auch hier aber ermuntern die Fellows einander und siehe da: Schon schreiben wir „frohgemuter“.