Vortrag von Prof. Anne Kühler

05.06.2025 15:00 - 17:00

Topik und Jurisprudenz

von Ellen Hagedorn

Als Theodor Viehweg 1953 seine Habilitationsschrift mit dem Titel „Topik und Jurisprudenz“ veröffentlichte, hatte er sich einem (damals) in der Wissenschaft vergessenen Thema gewidmet. Die Kritik an seinem Werk fiel stark aus. Insbesondere die Methodenlehre und die Rechtshistorik hielten diese „Wiederentdeckung“ der Topik für problematisch. Weder beruhe sein Werk auf korrekten historischen Argumenten, noch ermögliche die Topik eine methodisch stringente Rechtsfindung. Dass Viehwegs Werk dabei für eine sich als wissenschaftlich bezeichnende Juristerei eine Provokation darstellte, überrascht nicht. Die Topik wurde als eine Kunst der Erfindung von Argumenten gesehen – für die Juristerei ein Problem, tut sie sich doch sowohl mit der Kunst als auch mit der Erfindung von Dingen in der Regel schwer.

Viehwegs Werk war Ausgangspunkt eines Vortrags von Frau Prof. Anne Kühler mit gleichnamigem Titel, den sie vergangene Woche im Rahmen der Ars Iuris Vorlesung „Angewandte Methoden der Rechtswissenschaften“ hielt. Am Anfang des Vortrags stand die Frage: Warum überhaupt die Topik thematisieren? Denn auch heutzutage handelt es sich um ein weitestgehend vergessenes Thema. Zudem ist es schwer zu bestimmen, was die Topik eigentlich ist. Eine Tatsache, die bereits einiges über ihr nicht ganz einfaches Wesen verrät. Etymologisch ist sie einfach als „Lehre von den Orten“ (topos = Ort) zu verstehen. Aber auch dies ist nicht selbsterklärend. Es geht dabei weniger um „Plätze“ als eher um verschiedene Kategorien, die für die juristische Argumentation herangezogen werden. Dazu gehören auch die bekannten Argumente des „a simili“ (Ähnlichkeitsschluss) und des „e contrario“ (Gegenschluss), die als Überbleibsel der Topik in der heutigen juristischen Ausbildung und Praxis zu finden sind. Man könnte auch sagen, es handele sich um die Lehre von den Problemgesichtspunkten, also die Lehre von verschiedenen Perspektiven, aus denen man ein Problem betrachten und daraus Argumente für eine bestimmte Lösung vorbringen kann.

Dass sich die Topik aber keinesfalls in den Überbleibseln des Ähnlichkeits- und des Gegenschlusses erschöpft, machte Frau Prof. Kühler in ihrem Vortrag deutlich. Unter anderem verwies sie auf Cicero und Boethius, die zu ihren Lebzeiten ganze Kataloge verschiedener Topoi erstellt haben, die als Handbücher für Argumentationen dienten. Noch bis ins 17. Jahrhundert handelte es sich um eine anerkannte wissenschaftliche Methode, erst im Zuge des Aufstiegs des Empirismus wurde diese „Nicht-Logik“, wenn man so will, aus dem wissenschaftlichen Diskurs verdrängt.

Gegen dieses Vergessen richtete sich Viehweg schließlich mit seinem Werk Mitte des 20. Jahrhunderts. Er berief sich dabei auch auf die jahrhundertealte Geschichte der Topik, die schon mit Aristoteles begonnen hatte. Diese aristotelische, antike Form der Topik erneuerte Viehweg zwar, sein Anliegen war aber insbesondere, diese „alte“ Methode der in seiner Zeit vorherrschenden „neuen“, schlichten Methode entgegenzusetzen. Der Methode seiner Zeit unterstellte er Spracharmut und Einfältigkeit, in der drastischsten Form sogar „Depravierung des Menschlichen“. Die Topik hingegen als aporetische Arbeitsweise lebe von dem Finden einer Fülle an Argumenten, gedanklicher Klugheit und Reflexion. Damit sei die Topik auch weit mehr als bloße Rhetorik – auch dies ein Vorwurf an die Topik. Was sie mit der Rhetorik wohl dennoch gemein hat, ist der fehlende Anspruch auf Absolutheit. Jede Problemlösung sei bedingt und partikular; die Topik helfe, einen der möglichen Wege widerspruchsfrei zu gehen, nicht aber den einen Weg der Wahrheit zu finden. Insofern ist der Topik die philosophische Annahme der Aporie aller Probleme inhärent.

Viehweg sah die Topik als nichts weniger als die Erörterung der „Struktur der Jurisprudenz“, also als ein Versuch, juristische Argumentation zahlreichen oder sogar allen möglichen Perspektiven zu unterziehen. So verstanden, ist jedes juristische Argument schon Teil der Topik, die Frage lautet stets nur, in wie vielen Perspektiven wir denken können. Die Frage, warum man überhaupt die Topik thematisieren soll, stellt sich dann nicht mehr. Sie ist so verstanden ohnehin Teil des juristischen Arbeitens – bewusst oder unbewusst.

Auch wenn im Vortrag die starke Kritik, die an Viehweg geübt wurde, einigen Raum einnahm, blieb doch zumindest auch die Überzeugung, dass Viehweg ein berechtigtes Anliegen verfolgte. Auch in den Fragen der Studierenden im Anschluss an den Vortrag zeigte sich, dass dieser Ansatz dazu anregt, das eigene juristische Arbeiten, das sicher nicht gänzlich frei von subjektiven Auffassungen und Perspektiven sei, kritisch zu reflektieren.

Zum Schluss stellte sich noch die Frage, inwiefern Viehweg selbst als postmodernder Denker avant la lettre verstanden werden könnte. Die Methode der Topik macht nicht zuletzt deutlich, dass jede Problemlösung partikular bleibt. Dann ist nicht nur die Gerechtigkeitsfrage Aporie, sondern auch die verwendete Methode zum Finden dieser Gerechtigkeit.