von Jakob Johann Gstach
Bei der historischen Interpretation (hist. Int.) geht es um „irgendwas mit Geschichte“, oder? – Naja. Uns ein tiefergreifendes und differenzierteres Verständnis dieser Auslegungsmethode zu vermitteln, das war das Ziel des Vortrags von Franz-Stefan Meissel. Gleich zu Beginn stand eine schwierige Frage, nämlich: Was ist überhaupt das Ziel der hist. Int.? Einer „subjektivistischen“ Sicht zufolge soll der subjektive Wille des historischen Gesetzgebers (hist. GG) ermittelt werden, dem dann insgesamt die überragende Bedeutung bei der Normauslegung zukomme. Diese Position gerät jedoch in unüberwindbare Schwierigkeiten: Wer genau ist der hist. GG? (Alle Abgeordneten des Parlaments zusammen? Wenn ja, wie bestimmt man ihren Willen und wie weit reicht dieser? Welche Rolle hat die Legistik? Im Falle des ABGB: Der Kaiser, der es oktroyiert hat? Seine maßgeblichen Redaktoren Martini und Zeiller? Der Gesetzgeber der Teilnovellen? Etc.) Was tun, wenn die Materialien uneindeutig oder gar widersprüchlich sind? Wie kann sich, wenn der Wille des hist. GG für dergestalt maßgeblich erklärt wird, etwa das ABGB weiterentwickeln und dem eingetretenen Wertewandel der letzten 200 Jahre Rechnung tragen, der sich auch in neuerer Gesetzgebung (inklusive verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte) positivrechtlich niedergeschlagen hat?
Einer solcherart eng verstandenen hist. Int. stellte Meissel ein weiteres und gemäßigteres Verständnis gegenüber: Die Methode einer hist. Int. im weiteren Sinn durchzieht die Auslegung in allen ihren Facetten und bedeutet den konsequenten Einbezug des Kontextes, zumal sowohl Semantik als auch Pragmatik jeweils auf spezifische Weise zeitverhaftet sind: Die Wortinterpretation etwa des ABGB muss den damaligen Gebrauch berücksichtigen; das systematische Verständnis einer Materie kann sich im Laufe der Zeit ändern; ebenso der als „objektiv“ angesehene Zweck eines Gesetzes (durch Lernen aus früheren Erfahrungen, was „funktioniert“ und was nicht) – kurzum: Was dem GG einer Norm „zusinnbar“ (Michael Potács) ist, hängt vom Kontext ab. So verstanden, greifen die hist. Int. und die anderen Interpretationsmethoden produktiv ineinander. Hierbei ist auch der Wille des hist. GG keineswegs irrelevant: Dieser kann und soll als eine von mehreren Perspektiven in den Interpretationsdiskurs eingeführt werden – es wäre gewiss nicht sinnvoll, auf die von den Macher:innen eines Gesetzes geleistete gedankliche Durchdringung der Materie zu verzichten. Ob und in welchem Maß der Wille des hist. GG dann auch das Auslegungsergebnis zu beeinflussen vermag, kommt auf den Einzelfall an. Hierbei kann er durchaus auch den Kürzeren ziehen, denn, um Radbruchs Bonmot anzuführen: Das Gesetz kann und muss klüger sein als seine Verfasser:innen. Das Gewicht des Willens des hist. GG ergibt sich bei einer dergestalt verstandenen hist. Int. nicht aus seiner methodischen Absolutsetzung, sondern aus seiner sachlogischen Überzeugungskraft.
Unterm Strich bedeutet dies v.a., dass man kein:e Rechtshistoriker:in sein muss, um gut historisch zu argumentieren; es geht vielmehr darum, scharfsinnige Dogmatik geschichtlich zu kontextualisieren. Die Bedeutung der Rechtsgeschichte für die Auslegung besteht keineswegs nur darin, dem Willen des hist. GG nachzuspüren, sondern sie durchzieht jegliche Interpretationstätigkeit als „transversales Prinzip“ (Christian Baldus) der Zeit- und Kontextverhaftetheit. In diesem Sinne ist hist. Int. nicht „irgendwas mit Geschichte“, sondern, um in diesem informellen Register zu verweilen, „alles, aber mit Geschichte“.