Rechtsgeschichte und geltendes Recht

06.06.2024

VO Angewandte Methoden der Rechtswissenschaft, Vortrag von Prof. Hans-Peter Haferkamp

von Lorenz Handstanger

lle Jurist*innen sind Historiker*innen: Immerhin ist die Grundlage juristischer Arbeit das Erschließen von Texten aus der Vergangenheit. Diese These stand am Beginn des Vortrags von Prof. Dr. Hans-Peter Haferkamp, wurde aber zugleich insofern relativiert, als dass der entscheidende Unterschied zwischen (Rechts-)Geschichte und der Arbeit am geltenden Recht die Methoden zur Arbeit mit und an diesen Texten sind. Rechtsgeschichte und Arbeit am geltenden Recht können, wie in der wissenschaftlichen Arbeit häufig, ergänzend nebeneinanderstehen. Dies erfordert ein sensibles Abstimmen der beiden Methodenfelder mit Rücksicht auf das Erkenntnisinteresse.

Geschichte ist Auswahl. Das heißt, Quellen müssen zuerst von Wissenschaftler*innen (selektiv) zusammengetragen werden. Wenn dies nicht stetig reflektiert geschieht, laufen Wissenschaftler*innen Gefahr, Paradigmen der früheren Wissenschaft zu übernehmen. Vor Allem in der klassischen Institutionengeschichte hängt man, wie Haferkamp erläuterte, an den „unsichtbaren Marionettenfäden“ der früheren deutschen Rechtsgeschichte. Das kann ein Übernehmen deren Vorlieben für gewisse Untersuchungsgegenstände bedeuten – z.B. die Priorisierung des ALR und ABGB über andere, ähnlich wirkmächtige Kodifikationen.

Eine solche Auswahl bewusst und sinnvoll zu treffen, erfordert eine klare Fragestellung. Rechtsgeschichte ist dann wertvoll für eine Untersuchung des geltenden Rechts, wenn dieses ohne historische Untersuchung nicht verstanden werden kann, oder wenn sie zumindest das Verständnis bereichert. Haferkamp nutzte das Beispiel einer Arbeit zur Bürgschaftsentscheidung des deutschen BVerfGs, um solche Auswahlentscheidungen greifbar darzustellen. Eine „Einleitungsgeschichte“ zur Institution der Ehegattenbürgschaft hätte in einem solchen Fall wenig zusätzliche Erkenntnisse geliefert. Aber vom Gericht zitierte Aufsätze und ihr historischer Kontext, die vorangegangene Rechtsprechungsgeschichte, und die Ideengeschichte des deutschen Zivilrechts der 1990er (Debatte um die Materialisierung des Zivilrechts, Leitfiguren bei Gericht mit starken Rechtsmeinungen) erleuchten schlüssig, was das BVerfG zu dieser Entscheidung geführt hat. Durch eine solche Verdichtung relevanter historischer Materialien für die konkrete geltendrechtliche Frage lässt sich auch ein besseres Bild der geltendrechtlichen Argumentation des BVerfGs liefern.

Im Anschluss zeigte Haferkamp auch andere Situationen auf, in denen es sich anbietet, in der Rechtsdogmatik auf die Methoden der Rechtsgeschichte zurückzugreifen. So verlangt eine konsequente historische Auslegung auch ein Auseinandersetzen mit historischer Quellenarbeit. Historische Kontextualisierung von vielzitierten Leitentscheidungen oder klassischen Instituten kann zu neuen Fragestellungen anregen (z.B. „Die Halterhaftung bei KFZ wurde eingeführt, weil 1900 niemand sein KFZ selbst fuhr sondern Chauffeure hatte – ist sie so noch zeitgemäß?“), und Institutionengeschichte kann dazu dienen, auf effiziente Weise einen „riesigen, ungemein produktiven Fundus an Problemlösungsvorschlägen“ zu einem altbekannten Problem zu sichten.

Im Rahmen von Fragen während des Vortrags und der Diskussion danach zeigte sich, dass ebenjene Art des methodisch zweigleisigen Arbeitens zwischen Rechtsgeschichte und geltendem Recht durchaus üblich ist. Die Anstöße des Vortrags zu sauberer wissenschaftlicher Arbeit mit rechtsgeschichtlichen Gegenständen waren äußerst wertvoll.