Verfassungskonforme Interpretation

02.05.2024

VO Angewandte Methoden der Rechtswissenschaft, Vortrag von Prof. Magdalena Pöschl

von Martin Baumgartner

Die verfassungskonforme Interpretation stellt in der modernen Rechtspraxis auch in Österreich ein wichtiges Werkzeug der Gerichtsbarkeit dar. Dieses Thema stand im Mittelpunkt des Vortrags von Prof. Magdalena Pöschl im Rahmen der Vorlesung Angewandte Methoden der Rechtswissenschaft.

Mehrere „Stufen“ der verfassungskonformen Interpretation können unterschieden werden: Von der weniger invasiven Auswahl einer möglichst nicht verfassungswidrigen Interpretationsmöglichkeit, über die verfassungskonforme „Berichtigung“ eines Gesetzes entgegen den klassischen Auslegungsmethoden, bis hin zur „unmittelbaren Anwendung der Verfassung“, wenn keine einfachgesetzliche Regelung besteht.

Durch das österreichische Kassationssystem, das Normprüfungsverfahren des Verfassungsgerichtshofes, wirkt die verfassungskonforme Interpretation weniger notwendig als in anderen Rechtsordnungen. Insbesondere in Systemen ohne Verfassungsgerichtsbarkeit wie der Schweiz oder dem Vorrangsystem der USA tritt die verfassungskonforme Interpretation mangels alternativer Instrumente zur Bereinigung von Verfassungswidrigkeiten in den Vordergrund.

In ihrem Vortrag beleuchtete Prof. Pöschl die Gründe, die laut Rechtsprechung und Lehre dennoch eine verfassungskonforme Interpretation in Österreich rechtfertigen, und hinterfragte diese im Austausch mit den Doktorand*innen. Es stellte sich heraus, dass die gerichtliche Unterstellung einer Absicht des Gesetzgebers, verfassungskonform zu handeln, Fallökonomie oder eine vermeintliche Schonung des Gesetzgebers (inklusive Vermeidung der Gefahr der Nichtsanierung eines kassierten Gesetzes oder Gesetzesteils) durchaus für die verfassungskonforme Interpretation sprechen können. Diese steht jedoch stets in einem Spannungsverhältnis einerseits zur demokratischen Legitimation des einfachen Gesetzgebers, andererseits zur Rechtssicherheit und der Exklusivität des Normprüfungsverfahrens beim VfGH.

Anhand anschaulicher Beispiele, von Ausnahmen im Antigesichtsverhüllungsgesetz für Stilmittel im Rahmen der freien Meinungsäußerungen (VfSlg 20.440/2021) bis zur Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens im Staatsbürgerschaftsrecht (VfSlg 20.330/2019), besprachen die Teilnehmer*innen der Vorlesung die Vor- und Nachteile sowie den Umgang der Gerichte mit der verfasungskonformen Interpretation.

Ob man auf die verfassungskonforme Interpretation zurückgreift, sei laut Prof. Pöschl keine Glaubensfrage, sondern eine Frage des normativen Umfelds. Obwohl das österreichische Kassationssystem mehr Rechtssicherheit zu schaffen vermag und die demokratische Legitimation des einfachen Gesetzgebers eher respektiert, verleiten eine Reihe pragmatischer Gründe Gerichte dazu, verfassungskonform zu interpretieren – diese Gründe sind einleuchtend, manchmal gar nobel, beizeiten sind sie allerdings schwieriger nachzuvollziehen. In jedem Fall ist die verfassungskonforme Interpretation aus der Rechtspraxis nicht wegzudenken.